Janin Rominger: Jutta, wer bist du und was machst du?
Jutta Reichelt: Ich bin Schriftstellerin. Wenn ich nicht mit meinem eigenen Schreiben beschäftigt bin, befasse ich mich viel mit dem Schreiben anderer. Ich leite Workshops und Werkstätten und ich betreue ab und zu größere Schreibprojekte, wie zuletzt die Fotogruppe des Blaumeier Ateliers. Ich habe zweimal für das [virt.] Literaturhaus Bremen die Entstehung eines Schulhausromans begleitet. Was mein eigenes Schreiben betrifft: Ich bin gerade sehr froh, da ein Text, für den ich 2020 das Bremer Autor*innenstipendium bekommen und an dem ich fast zehn Jahre gearbeitet habe, in diesem Herbst erscheinen wird.
Herzlichen Glückwunsch! Das knüpft gut an meine nächste Frage an. Wenn du sagst, dass ein Text zehn Jahre lang gebraucht hat, um zu entstehen und fertig gestellt zu werden – was bedeutet dir Literatur?
Das ist für mich schwer zu beantworten, weil Literatur auf ganz unterschiedliche Weisen wirken kann. Viele Leute haben die Vorstellung, dass gute Texte sich in irgendeiner Weise ähnelten. Es ist bei Texten aber wie bei Sportarten: Ein guter Hürdenläufer und eine gute Fußballspielerin sind auf unterschiedliche Weisen gut in dem, was sie machen.
Ich war bei deinem vom Bremer Literaturkontor organisierten Werkstattgespräch. Da hast du ›Es wäre schön‹ gelesen, einen Text, von dem du sagst, er wäre vielleicht dein am stärksten autobiografischer, obwohl du nichts von dem, was da geschildert wird, erlebt hast. Ist das Vermischen von Fakt und Fiktion oder das Erinnern eine wichtige Dimension in deinem Schreiben?
Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, es gibt immer etwas in uns, das zum Ausdruck drängt. Literatur ist eine tolle Möglichkeit, dem nachzugehen beziehungsweise sich überhaupt erstmal auf die Suche danach zu machen, was mich gerade umtreibt. Ich muss immer erstmal schreiben, um herauszufinden, was ich schreiben möchte.
Gleichzeitig liegt Schreiben auch total nahe, da alles Sprache ist. Man muss zum Schreiben das Erlebte also nicht erst in ein anderes Medium übertragen.
Naja. Erleben passiert nicht in Sprache. Gerade das Erleben von einschneidenden und traumatischen Erlebnissen findet sprachfern statt. Nachträglich können wir das mit Sprache beschreiben. Deshalb ist das Geschriebene nie das, was wir erlebt haben.
Toll, so habe ich das noch nicht betrachtet!
Mir ist auch erst beim Schreiben meines neuen Textes klargeworden, dass Sprachlosigkeit in gewisser Weise erstmal der Normalzustand ist.
Literatur kann also im ersten Schritt eine Verschriftlichung von Erlebnissen sein.
Ganz genau. Aber nicht alles, was ich schreibe, ist Literatur. Das Aufschreiben alleine trägt oftmals zu einer Distanzierung des Erlebten bei, da die sprachliche Ebene eingefügt wird. Das tut wohl erst einmal den meisten Menschen gut, wenn es freiwillig passiert. Wie dann daraus Literatur werden kann, ist eine andere Frage.
›Natürlich gibt es Bereiche, wo noch Luft nach oben ist. Für die professionellen Autor:innen in Bremen ist es schwierig, gefördert zu werden.‹
Manche deiner Schreibwerkstätten sind mit einem Thema überschrieben wie zum Beispiel die Termine für queer.lit! im Herbst mit ›Queer Schreiben: Gegen die Norm!‹. Andere Schreibwerkstätten heißen einfach ›Offene Schreibzeit‹. Was ist das Ziel bei deinen Workshops?
Es geht darum, die Menschen, die zu einem meiner Termine kommen, darin zu unterstützen, sich dem anzunähern, was sie eigentlich schreiben wollen. Ich glaube, die Leute denken ganz oft, dass sie dadurch limitiert werden, dass sie zum Schreiben nicht genügend Talent hätten. Aber eigentlich sind sie limitiert, weil sie nicht neugierig genug sind. Hat man erstmal Material, geht es darum, so konkret und präzise wie möglich zu werden. Dann ist man schon auf einem ganz guten Weg zum literarischen Text. Zuerst muss man aber wild und mutig drauflosschreiben.
Und welche Bedeutung hat der UNESCO-Titel City of Literature?
Das ist eine großartige Auszeichnung für Bremen und man kann all denen, die sich in Politik und Literaturbetrieb dafür engagiert haben, nicht genug danken, insbesondere Heike Müller und Jens Laloire, die enorm viel Zeit und Ideen investiert haben.
Findest du, dass Bremen die Auszeichnung verdient?
Absolut. Wenn man in Bremen lebt und sich für Literatur interessiert, ist man in der richtigen Stadt: Es gibt große Festivals und eine unglaubliche Vielfalt an inhaber:innengeführten Buchhandlungen mit tollen Programmen.
Und wo fehlt deiner Meinung nach noch etwas?
Natürlich gibt es Bereiche, wo noch Luft nach oben ist. Für die professionellen Autor:innen in Bremen ist es schwierig, gefördert zu werden. Es gibt kein Arbeitsstipendium, auf das ich mich bewerben kann; wie es in anderen Bundesländern üblich ist. Aber auch für schreibbegeisterte Kids fehlen Angebote. In jeder Klasse gibt es zwei bis drei Schreibnerds, die oft Fanfiction schreiben. Das ist super, aber das verraten sie eher nicht ihren Deutschlehrer:innen. Diese Kinder suchen oft nach Anregung und Rückmeldung und finden sie nicht.
Es braucht also mehr Angebote für Menschen, die mit dem Schreiben beginnen wollen.
Und es braucht Angebote für Autor:innen, die an der Schwelle zur Professionalität stehen: Workshops mit Lektor:innen und Agent:innen, die konkret beraten. Da gibt es noch immer zu wenig passende Vernetzungsangebote.
Vernetzung ist das A und O. Sonst würden wohl nicht so viele Autor*innen nach Hamburg oder Berlin ziehen.
Ich bin überzeugt, dass diese Auszeichnung und dann auch das neue Stadtmusikantenhaus die Bremer Literaturszene stärken werden.