Z: Ein Anlass für unser Gespräch ist, dass das Festival TANZ Bremen in diesem Jahr nicht wie geplant stattfinden kann. Nicht zum ersten Mal. Bremen hat eine große Tanz-Geschichte. Kann Bremen sich denn noch als Tanzstadt bezeichnen?
Magali Sander Fett: Ich denke schon, dass wir an einem guten Punkt sind. Wir haben viel erreicht. Viele Menschen arbeiten dafür, dass es nach vorne geht. Es gibt zwei Landesverbände für die freie Szene. Es gibt Trainings, Workshops, viele Kooperationen untereinander. Gerade sind wir aber auch an einem Punkt, wo nicht immer klar ist, wie es weitergeht. Und das hat mit der unsicheren Finanzierung zu tun. Kolleg:innen, die von außerhalb nach Bremen kommen, sind sehr begeistert und beeindruckt, wie gut die Szene funktioniert.
Z: Magali, du bist im Landesverband freier darstellender Künste aktiv. Wie stellt sich die Situation im anderen Landesverband Tanzszene Bremen dar? Gibt es da den gleichen Zwiespalt, Helge? Es passiert total viel, aber es ist oft prekär?
Helge Letonja: Warum passiert denn so viel in der Tanzszene? Weil viele Menschen mit sehr, sehr viel Engagement hier arbeiten. Das ist der Kern. Und es konnte auch deswegen so viel passieren, weil Mittel von außen in die Stadt gekommen sind. Das hat bestimmte Entwicklungen erst ermöglicht in den letzten Jahren. Bremen hat während der Corona-Pandemie viel geholfen, auch mit Kompensationsmitteln. Da ist sehr viel entstanden. Viele Mittel kommen auch für Kinder- und Jugendprojekte rein, die auf Bundesebene gefördert werden. Da passiert in Bremen wirklich viel. Auch im Vergleich zu anderen Bundesländern. Für die Projekte im freien Bereich haben sich die Mittel aber nicht geändert, die sind nach wie vor auf moderatem Niveau. Da gibt es nicht viel Spielraum. Der Landesverband Tanzszene Bremen bekommt keine Mittel von Bremen, da arbeiten alle ehrenamtlich.
Z: In der Tanzsparte des Theater Bremen ist die Situation anders, da gibt es einen festen Etat. Wie ist es bei euch?
Gregor Runge: Ich habe das Gefühl, dass der Tanz am Theater Bremen in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Wir sind fest in überregionalen und internationalen Netzwerken verankert. Auch Künstlerinnen und Künstler aus der lokalen und überregionalen freien Szene sind mit dem Theater Bremen immer wieder in mehrjährigen Verbindungen gewesen, wie zum Beispiel die Performance-Gruppen Gintersdorfer/Klaßen und La Fleur. Diese Kooperation ist zwar ausgelaufen, aber es sind ständig neue dazugekommen. Es gab über ein paar Jahre die Zusammenarbeit mit der Kompanie Of Curious Nature im Rahmen von Tanzpakt, gerade läuft das pik–Programm für inklusive Kunstpraxis, in dem wir mit tanzbar_bremen kooperieren. Künstlerinnen und Künstler aus der lokalen und überregionalen freien Szene sind mit dem Theater Bremen immer wieder auch in mehrjährigen Verbindungen gewesen. Die Kuration der Tanzsparte hat sich im Vergleich zu 2012, als wir mit Unusual Symptoms – der Tanzkompanie des Theater Bremen – hier angefangen haben, auch sehr stark verändert. Alexandra Morales und ich haben 2018 die künstlerische Leitung übernommen. Und seitdem arbeiten wir in einem viel diversifizierteren Programmspektrum und laden viele internationale Choreografinnen und Choreografen ein, neue Arbeiten mit der Kompanie zu entwickeln. Wir haben neue Formate erfunden, zum Beispiel ›Vier Tage Tanz‹, das über Ostern stattfindet. Ich habe das Gefühl, dass wir mit dem Tanz so breit aufgestellt sind wie schon lange nicht mehr hier am Haus. Man merkt das auch. Das Publikum hat sich ebenfalls diversifiziert.
›Ich habe das Gefühl, dass der Tanz am Theater Bremen in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Wir sind fest in überregionalen und internationalen Netzwerken verankert.‹
(Gregor Runge)
Z: Geht es auch darum, die große Bremer Tanztradition mit Namen wie Hans Kresnik und Reinhild Hoffmann fortzusetzen?
Helge Letonja: Die Zeiten sind andere, und die Art zu denken und zu arbeiten ist auch eine andere. Die Tanzszene ist nicht mehr so homogen, wie sie früher einmal war. Das kann man grundsätzlich konstatieren. Die damaligen großen Erfolge, Kresnik, der das Tanztheater erfunden hat, die ganzen Koryphäen, die hier am Haus waren … Wir, die wir hier sitzen, haben mit einigen von ihnen gearbeitet. Wir sind die Nachfahren. Wir machen heute unsere Arbeit unter den Bedingungen, die wir hier vorfinden und die wir für uns selber erzeugen. Wichtig ist, dass der Tanz hier in dieser Stadt eine Rolle spielt.
Z: Wie ist es denn, wenn man, wie das Tanzkollektiv Bremen, in Projekten arbeitet?
Magali Sander Fett: Unser Fokus als Tanzkollektiv ist, uns zu vernetzen, uns mit anderen auszutauschen und uns zu öffnen. Ich habe ein Stück gemacht, das von einem Fußballspiel ausging, um ein anderes Publikum anzusprechen als sonst oft im Tanz. Aber wir wollen uns auch gegenüber anderen Kunstformen, anderen Formen von Bewegung öffnen. Es geht immer um Kommunikation mit dem Körper.
Z: Bekommt ihr auch Einladungen von auswärtigen Festivals?
Magali Sander Fett: Vor der Corona-Zeit viel, ja. In den letzten zwei Jahren haben wir einiges aufgebaut. Aber wir haben keine Konzeptionsförderung mehr. Momentan ist es nicht mehr möglich, die Proben für eine Wiederaufnahme oder Gastspiel selbst zu bezahlen.
Helge Letonja: Of Curious Nature bekommt keine substanzielle Förderung aus Bremen. Die Finanzmittel für das Ensemble müssen wir erwirtschaften.
Z: Wie viel des Gesamtetats erwirtschaftet ihr selbst, zum Beispiel durch Gastspiele und Co-Produktionen?
Helge Letonja: Zurzeit etwa 80 Prozent. Wir laufen gerade in eine Phase, in der das Touren extrem abnimmt. Das bricht als Finanzierungsquelle weg. Ohne zukünftige finanzielle Beteiligung der Stadt kann das Ensemble in Bremen nicht erhalten bleiben.
Gregor Runge: Jetzt müssen die Schulden, die in der Corona-Zeit gemacht wurden, abgetragen werden. Das gilt für auch für andere Länder. Das Touren mit großen Produktionen nimmt mehr und mehr ab.
Z: Kam das Publikum nach Corona denn zurück?
Magali Sander Fett: Meine letzte Produktion ›Chorus‹ war an allen drei Abenden ausverkauft.
Helge Letonja: Am Anfang kamen sie noch zögerlich, inzwischen ist es wieder voll.
Z: Was hat der Tanz in Bremen gerade für Themen? Haben die sich angesichts eines diverseren Publikums verändert?
Gregor Runge: Wenn man sich in der Tanzgeschichte Bremens umsieht – die ästhetischen Experimente von Gerhard Bohner in den Siebzigern zum Beispiel oder später Johann Kresnik, mit einem starken politischen Zugriff –, dann fällt auf, dass Tanz immer schon etwas Politisches hatte, einfach weil es um Körper geht. So vieles, was unsere Identitäten ausmacht, kommt immer wieder auf die Körper zurück: Welche Körper dürfen wohin reisen? Wie dürfen sie aussehen? Die Frage, wie wir normative Vorstellungen vom Körper durchbrechen können, welche Körper sich auf den Bühnen abbilden, von der freien Szene bis zu den großen Mainstream-Institutionen, ist eine ganz wichtige Frage. Wer taucht auf, wer hat Anteil, wer ist gemeint? Wer wird sichtbar und welche Themen kommen auf, wenn wir diese Sichtbarkeit erweitern? Diversitätsorientierte Fragen, die über den Körper verhandelt werden, halte ich für die wichtigsten in den letzten Jahren. Mit ›Harmonia‹ haben wir uns zum Beispiel für Tänzer:innen mit Behinderung geöffnet. Das war eine Riesenbereicherung.
›Es geht immer um den Körper, ja. Das ist das wichtigste Thema und zugleich unser Mittel.‹
(Magali Sander Fett)
Magali Sander Fett: Es geht immer um den Körper, ja. Das ist das wichtigste Thema und zugleich unser Mittel. Die Formate haben sich geändert. Es wird partizipativer. Es ist mehr möglich geworden, wie man gemeinsam mit dem Publikum interagieren kann.
Helge Letonja: Gesellschaftliche Fragen spielen immer eine Rolle. In meiner Arbeit stelle ich Meta-Themen wie Gender oder Diversität selten in den Vordergrund. Der Körper, klar, das ist unser Instrument. Das ist unser Medium, sich auszudrücken. Die Meta-Themen sollten im Denken und Handeln verankert sein. Sie müssen aber nicht vorrangig sein. Wir haben heute eine Förderpraxis, bei der sich viele Künstler:innen mit Themen die en vogue sind erfolgreich bewerben. Was wäre, wenn ich als Choreograf einfach mal ein Tanzstück zu Rachmaninow machen möchte? Nur als Beispiel. Verwerflich? Nein. Die Kunst darf einfach Kunst sein.
Z: Man müsste sich dann noch etwas dazu ausdenken …
Helge Letonja: Nein, muss man nicht. Warum?
Z: … um gefördert zu werden?
Helge Letonja: Ja, in der Beschreibung sicherlich. Wir sind im Förderbereich so gesteuert, dass die Themen, die gerade aktuell sind, wiederholt werden.
Z: Und die Künstlerinnen und Künstler gar nicht die sind, die die Themen setzen?
Helge Letonja: Genau. Bei Of Curious Nature arbeiten wir intensiv im Ensemble. Und uns ist wichtig, dass unser Ensemble als Gemeinschaftskörper miteinander eine Dramaturgie entwickelt, die sinnlich berührt. Das steht sehr weit vorne. Es ist wichtig, dass die Kunst hinter dem Thema nicht verschwindet. Die Leute kommen zu uns nicht nur wegen des Themas, sondern auch, weil sie einen tollen Tanzabend sehen wollen.
Magali Sander Fett: Da stellt sich auch die Frage nach der künstlerischen Freiheit. Es ist nicht wichtig, was gerade angesagt ist. Manchmal will man einfach frei sein. Letztens bei einem Publikumsgespräch mit einer Chroreografin gab es einen schönen Moment. Sie hat sich darüber gefreut, dass sie endlich mal in einer Stückentwicklung machen konnte, was sie wollte, ohne an den Antragstext in einer Förderung zu denken.
Gregor Runge: Ich würde ein wenig abschwächen, was ihr gesagt habt. Dass Fördersysteme thematisch und politisch getrieben sind, ist als Vorwurf ja nicht neu. Das haben die Leute vor 30 Jahren auch schon gesagt …
Z: Es gab aber nicht so viele freie Projekttöpfe.
Gregor Runge: Ich bin Teil vieler Förderjurys gewesen, und es gibt natürlich Themen, die zu einer bestimmten Zeit Relevanz haben und zu einer anderen weniger. Ich bin mir aber sicher, dass, wenn du ein schlüssig formuliertes künstlerisches Konzept zu einem Rachmaninow-Tanzabend einreichst, das genau so unvoreingenommen betrachtet wird, wie eins, das sich mit den sogenannten Meta-Themen beschäftigt.
Helge Letonja: Ich wollte keine Jury-Entscheidungen kritisieren. Es ging mir um die Frage nach den Meta-Themen im Tanz. Und die finden dann in der Ausschreibungs- und Förderpraxis ihr Pendant. Das kann man ja konstatieren. Wenn ich als Künstlerin und Künstler auf solche Förderprogramme angewiesen bin, dann überlege ich mir natürlich, ob ich zu der jeweiligen thematischen Setzung eine Idee habe. Das ist was anderes, als wenn ich von meiner eigenen künstlerischen Idee ausgehe und dafür eine Finanzierung suche. Eine andere Herangehensweise. Gregor Runge: Da würde ich zustimmen. Es muss möglich sein, als Künstler oder Künstlerin jenseits von etablierten Förderlinien Ideen zu entwickeln und Entscheidungen zu treffen. Das ist aber nichts Ausschließliches.