›Ich will, dass die Wahrheit siegt‹

HANS HESSE

Der Historiker Hans Hesse erforscht seit 1993 die NS-Verfolgung der Sinti und Roma in Nordwestdeutschland, zeitweise als Projekt mit dem Bremer Sinti-Verein. 2005 legte er mit ›Konstruktionen der Unschuld‹ das Standardwerk über die Entnazifizierung in Bremen und Bremerhaven vor. In seinem Text beschäftigt er sich mit einer Bremer Täterin, die nie zur Rechenschaft gezogen wurde.

Seit ich im Sommer 1993 eine Gedenktafel am Schlachthof angeregt hatte (zuerst stellte ich die Idee den MitarbeiterInnen im Kulturzentrum vor, dann zusammen mit ihnen dem Bremer Sinti-Verein), hat sich in der Gedenklandschaft zur NS-Verfolgung der Sinti und Roma in Bremen zwar viel getan, aber an ein besonders grausames NS-Verbrechen wird in Bremen nach wie vor nicht erinnert: Die Menschenversuche der Bremerin Dr. Karin Magnussen, denen in Auschwitz-Birkenau Mitglieder der Sinti-Familien Bamberger, Mechau, Laubinger, Petermann, Engelbert und Kirsch zum Opfer fielen.

Magnussen interessierte sich für Augenfarben. Bei der SintiFamilie Mechau in Oldenburg entdeckte sie eine gehäuft auftretende Anomalie: Heterochromie, Verschiedenfarbigkeit der Augen. Diese Menschen hatten z.B. ein blaues und ein braunes Auge.

Als Magnussen als wissenschaftliche Mitarbeiterin am renommierten Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (der heutigen Max-PlanckGesellschaft) in Berlin-Dahlem tätig war, wurde ihr die genauere Erforschung dieser Anomalie übertragen. Mit schrecklichen Folgen für die betroffenen Menschen, die in Auschwitz-Birkenau umgebracht wurden, damit Magnussen in Berlin ihre Augen unterm Mikroskop untersuchen konnte.

1908 geboren und aufgewachsen in Bremen-Schwachhausen, besuchte sie das Kippenberg-Gymnasium und studierte in Göttingen. Hier trat sie 1931 der NSDAP bei. Sie galt als ›fanatische Nationalsozialistin‹. Nach 1945 kehrte sie nach Bremen zurück und arbeitete unbehelligt als Biologielehrerin, zuletzt bis zu ihrer Pensionierung am Gymnasium an der Kurt-Schumacher-Allee in Bremen-Vahr. Sie starb am 19. Februar 1997 in einem Bremen Altersheim nach zwei Schlaganfällen.

Magnussen wurde im Familiengrab auf dem Riensberger Friedhof in Schwachhausen beerdigt. Das Grab wird unter Denkmalschutz gestellt werden.

›ICH WILL, DASS DIE WAHRHEIT SIEGT‹ Einer der zwei (!) Überlebenden der Familie Mechau war Gustav Mechau. Er lebte jahrzehntelang bis zu seinem Tod am 6. September 1981 in Bremen und wurde auf dem Waller Friedhof beerdigt. Sein Grab wurde inzwischen eingeebnet.

Es gibt allerdings ein Grab seiner Tante, Wilhelmine Petermann, auf dem Waller Friedhof. Sie wurde am 18. Januar 1927 dort beerdigt. Es ist das älteste noch existierende Sinti-Grab in Bremen. Wilhelmine war die Schwester von Gustavs Mutter, Auguste Mechau. Dieses Grab ist die letzte Spur der Bremer Familien, an denen Magnussen ihre Menschenversuche durchführte.

Der jetzige Eigentümer der Grablege würde es begrüßen, wenn dort ein Gedenkzeichen mit den Worten Gustav Mechaus ›… ich will …, dass die Wahrheit siegt und der letzte Schleier von jenen grauenhaften Einzelheiten des Naziregimes genommen wird‹ entstände. Diese Worte stammen aus der Zeugenaussage Gustav Mechaus in dem Entnazifizierungsverfahren gegen den Leiter und Organisator der NS-Verfolgung der Sinti und Roma im Weser-Ems-Gebiet bei der Bremer Kriminalpolizei, Kriminalsekretär Wilhelm Mündtrath, der seine Todesanzeige noch 1973 mit SS-Runen schmücken ließ.

Als Reaktion auf mein Buch ›Augen aus Auschwitz‹ von 2001 erhielt ich zahlreiche Briefe von ehemaligen SchülerInnen von Magnussen. Eine Schülerin fragte: ›Was mich am meisten bedrückt und auch Schuldgefühle aufkommen lässt, ist die Frage: Warum haben wir so wenig hinterfragt?‹ Und ein Schüler mit jüdischer Abstammung erinnerte sich, dass auch eine Mathematik-Lehrerin gelegentlich zu NS-Äußerungen griff: ›Sie sagte da mal im Unterricht: ‚KZ… Konzentration!‘ Die war echt gemein und hat uns alle terrorisiert.‹ 

In Mengeles Geburtsstadt Günzburg gibt es seit 2005 ein Mahnmal zum ›Gedenken an die Opfer des KZ-Arztes‹, das von SchülerInnen zweier Gymnasien am Ort, entworfen wurde. In Bremen sucht man vergeblich solche Erinnerungszeichen, die an die Verbrechen der Auftraggeberin von Mengele erinnern.

Es ist diese TäterInnenvergessenheit, die das Opfergedenken hohl werden lässt. Ich frage mich, ob das Opfergedenken womöglich als Camouflage zu verstehen ist, hinter die sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft flüchtet, um ihre Schuldgefühle aufzulösen. ›Warum haben wir so wenig hinterfragt?‹ Die Beantwortung dieser Frage gehört ebenso zur ›Wahrheit‹ und in unsere heutige Gegenwart mit dem wachsenden Rechtspopulismus.