Raucherbar im Bremer Viertel. Nilüfer Türkmen kommt im lässigen Look in ihre Stammkneipe und es ist spürbar, wie wohl sie sich hier fühlt. Einer ihrer Safe Spaces, bestehend aus bekannten Menschen, freundlichen Gesichtern und leckerem Kaffee – schwarz! ›Du kannst mich Nelly nennen!‹, sagt sie, nachdem sie das Servicepersonal begrüßt und ihren Stuhl zurecht geschoben hat. Nilüfer Türkmen ist Autorin, Musikerin und freie Referentin zum Thema Schizophrenie. Zusätzlich ist sie seit 2024 als ehrenamtliche Richterin am Sozialgericht und als Hauptschöffin am Amtsgericht aktiv.
Nellys Kindheit war anders. Nicht typisch! Aber was bedeutet schon typisch. Halluzinationen, Wahnvorstellungen, soziale Isolation, Beeinträchtigungen der Denk- und Konzentrationsfähigkeit, Planungsprobleme, Therapie – das war für Nelly typisch. Ihre Mutter wurde mit Schizophrenie diagnostiziert. ›Schon beim Heranwachsen habe ich gespürt, dass es bei mir zu Hause anders läuft als bei meinen Freundinnen‹, Nelly weiß noch, wie sie zunächst verwundert über diese Unterschiede war. ›Meine Mama hat halt komische Sachen gesagt – das haben andere Mamas nicht!‹. Mit der Sache scheinbar vollkommen im Reinen nippt sie an ihrem Kaffee und schaut aus dem Fenster. Die belebte Straße wirkt als gern gesehene Ablenkung des Moments und scheint Erinnerung hervorzurufen. ›Als Kind wollte ich draußen die Welt entdecken. Aber meine Mutter hat sich, aufgrund ihrer Krankheit, sehr auf die potenziellen Gefahren konzentriert. Also habe ich mich eingeigelt. Ihre Realität war schließlich zu meiner Realität geworden. Erst im Kinderheim konnte ich Abstand gewinnen und entdecken, was wirklich ist …‹
Mit neun Jahren kam Nelly in ein Kinderheim – ›hier habe ich gelernt, meine Grenzen kennenzulernen und diese zu schützen‹. Nelly blickt positiv auf die Zeit und die Menschen dort. Für sie und ihre Mutter war es die beste Entscheidung sich räumlich zu trennen, um wieder zueinander zu finden. Heute ist die Liebe, die beide füreinander empfinden, ein wichtiger Lebenspfeiler und sie verbringen viel Zeit gemeinsam. ›Damals konnte ich nicht in Worte fassen, wie sehr ich unter dieser Situation litt, wie sehr ich daran auch verzweifelt bin.‹ Nelly schiebt ihre Tasse vor sich her. Der Kaffee ist kalt.
›Wenn ich auf ein Projekt Bock habe, dann bin ich wirklich mit Herz und Mund dabei!‹
Ihre Worte hat sie in der Abiturzeit gefunden. Hier startete sie mit kleinen Artikeln für den Weser Kurier, für das Stadtteil-Magazin Walle, auch die Abi-Rede stammte aus ihrer Feder. Die Wartezeit bis zum Studium nutzte sie für das Schreiben ihres ersten Buches. ›Ich hatte diesen innerlichen Wunsch, das Erlebte mit meinem Umfeld zu teilen, aber auch WAS BEDEUTET SCHON TYPISCH? Menschen zu erreichen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben‹.
›Als Mama mit der Lampe sprach‹ – der Titel ihres 2021 erschienenen Buches lässt bereits einiges erahnen. Nelly möchte über die Erkrankung Schizophrenie aufklären. Ihre Worte sollen dabei im Umgang unterstützen, Berührungsängste abbauen und eine Plattform für ein gemeinsames Gespräch bieten. Seit der Veröffentlichung ist sie mit ihrem Buch auch in Schulen unterwegs, gibt Vorträge und referiert über Schizophrenie. Die Kraft ihrer Zeilen, zusammen mit ihren gelebten Erinnerungen an damals und ihr großes Verständnis schenken ihr einen besonderen Zugang zu den Menschen. ›Derzeit arbeite ich gemeinsam mit einem Facharzt an einem Ratgeber über Schizophrenie. Und auch ein Kinderbuch ist gerade in der Planung!‹.
Nelly nutzt neben dem Schreiben auch die Musik als ihr persönliches Kraftelement. Gemeinsam mit den Künstlerinnen AGLY und Adrenaleni entstand 2023 das Bremer Hip-Hop- Trio clitpics. ›Wenn ich auf ein Projekt Bock habe, dann bin ich wirklich mit Herz und Mund dabei! Ich könnte eins meiner Herzensprojekte niemals einfach fallen lassen, ohne es vorher beendet zu haben.‹ Woher stammt dieser starke Antrieb? Vielleicht eine Mischung aus ihrer kreativen Persönlichkeit und ihren prägenden Erfahrungen? ›Ich weiß es gar nicht. Durch die Krankheit meiner Mutter entfaltet sich bei mir schon früh der Wunsch, als Erwachsene niemals so zu leben, wie ich es damals getan habe‹, erzählt Nelly lächelnd. Und das scheint ihr geglückt zu sein.