Länger als die doch sehr beachtlichen 44 Jahre der ›WG Nachtigal‹ im Steintorviertel, Ostertorsteinweg 1/2, Ecke Am Dobben. Die letzten Bewohner:innen mussten Ende Februar ihre Sachen packen und das denkmalgeschützte, um 1910 herum gebaute Haus mit den charakteristischen Erker-Risaliten verlassen. Die Wohnung im 4. Stock mit Blick aufs Sielwalleck wird nach dem Tod des Hauptmieters Frank grundsaniert. WG-Bewohnerin Elena sagt: ›Wir sind bereits die dritte WG, die raus muss. Die Wohnung mindestens einer anderen WG wurde in kleinere Einheiten aufgeteilt und teurer neuvermietet.‹
Als ich 2001 für drei Jahre einzog, wohnten dort Frank, Tom, Junior und Bode, ein Line-Up wie eine Band. Bode und Tom hatten ihren eigenen Kopf und ihre eigene Agenda. Junior, der einzige mit 9-to-5-Job, hielt den Laden zusammen, und Frank tauchte wie eine Diva auf und verschwand wieder, ging lange Schichten arbeiten oder ins Zweitdomizil nach Berlin, Kultur und vieles andere mehr tanken. Wenn er in der WG war, machte er es sich wie ein Kater auf der Küchenbank bequem und spann Erzählfäden zusammen, durchdacht komponiert oder improvisiert wie seine Gemälde, Collagen, Fotos, von denen in der WG leider kaum welche hingen.
Sowieso, diese Esszimmerküche. Was da alles durchgerauscht ist in 44 Jahren. Tom und andere luden gerne zu großen Partys bei uns ein, die ebenso gern ausarteten. Bis aufgekratzte Erasmus-Studentinnen, verirrte B-Promis, die Polizei oder alle miteinander versuchten, die Musik zu übertönen, während die Kollekte-Gruppe gerade mit frischem Bier zurückkam. Wenn Frank nicht mitten im Treiben war, überschlief er solche Szenen auch mal seelenruhig oder voller Gönnen in seinem Zimmer, um morgens um sieben zur Arbeit zu gehen.
Es gab ›Vollmondnächte, da konnte man durch die Wände vom Haus gucken, und alles wuselte vor Leben‹, erinnert sich Ex-WG-Bewohnerin Silke. War es ruhiger, spielten nachts manchmal Randständige Fußball auf der Sielwallkreuzung (›Junkie-Ball‹). Bis die Polizei kam und den Ball mitnahm. Dann konnte es vorkommen, dass aus einem unserer Fenster ein neuer Ball ins Spiel kam, und wenn die Polizei wieder auftauchte, flog auch mal ein gezieltes Ei hinterher.
Kein Wunder, dass die Verwaltung die WG auf dem Kieker hatte. Es brauchte schon einen Menschenkenner und -freund wie Frank, um immer alles geradezubiegen. Den Hausmeister der Achtzigerjahre, ›T.H., die alte Klatschbase‹, sagt Silke, hielt sich Frank gewogen, indem er ihn mit ausgesuchten Neuigkeiten zum Weiterklatschen fütterte.
Frank hatte eine Ausstrahlung von der Art, dass man sich Beachtung und Anerkennung von ihm wünschte, und dazu genug Großzügigkeit, dass man sie auch bekam. Für die gerne langhaarigen und schönen Männer, in die er sich verliebte, kochte Frank auch mal frei nach Paul Bocuse Suppe im Kürbis. Beim Thema Essen gab es aber auch Zoff in der WG, sagt Silke. Bewohner Gerhard kochte für sich Hackeintopf mit Kümmel, den Silke, die Kümmel hasste, eigens herauspulte, weil sie Gerhard nicht gönnte, nur für sich zu kochen. Gemeinsame Ausflüge machte die WG auch, etwa zu Großdemos gegen das AKW Brokdorf, erinnert sich Annette, die ab 1981 in der WG wohnte – wiederum der Beginn einer lebenslangen Freundschaft.
Sie lernte Frank als Sannyasin kennen, als Anhänger des indischen New-Age-Philosophen Osho, weltweit verehrt trotz und/oder wegen seines Rufs als ›Sex-Guru‹. Frank bekam vom Meister den Namen Rajendru, sagt Annette, und trug ausschließlich orange-rote Kleider und Gebetskette. Irgendwann, wahrscheinlich ohne große Übergangszeit wurde Frank dann der gutmütig knurrende, unübersehbare Man in Black mit schwarzer, stilvoll-praktisch-punkiger Garderobe.
In seinem Leben, in seiner WG (ja, besonders in genannter Wohnküche) spiegelten sich Epochen alternativer Szenen, liefen biografische und kulturelle Fäden zusammen. Ein Wert an sich. Diesen Preis kostet die Um-wandlung in teure Single-Appartements (auch).
Eine Ära geht zu Ende. Welche neue fängt an? Wer gestaltet sie nach welchen Interessen? Um es mit Frank zu sagen: ›Der Kampf geht weiter.‹