Wie ein Theaterstück auf die Bühne kommt

LISANN PRüSS

›Das wird mir alles viel zu viel‹. Ein Gedanke, den viele kennen. Jeden Tag schlechte Nachrichten, Negativität und Leid von allen Seiten, manchmal ist es schwer noch etwas Positives dazwischen zu erkennen. Wie gehen wir damit um, besonders Kinder? Das Theaterstück ›Und alles‹ beleuchtet diese Frage. Darin beschließt der junge Ehsan, überwältigt von allem, zu gehen. Seine kleine Schwester, deren Babysitterin, ihr Freund und ein Nachbarskind vermuten, dass er sich im Bunker im Garten versteckt hat. Sie geben ihr Bestes, um ihn dazu zu bewegen, die Klappe des Bunkers wieder zu öffnen und die Welt und seine Freunde wieder hereinzulassen.

Bevor das Stück auf die Bühne kommt, stehen acht Wochen Proben an. Zur einer Vormittagsprobe Mitte September versammeln sich nach und nach immer mehr Menschen im Theatersaal des Brauhauses. Alles im Raum ist schwarz, mit Ausnahme der Requisiten und der hellen Vorhänge um die rechteckige Bühne herum, die in der Mitte steht. Von den Tribünen rechts und links hat man sehr gute Sicht auf die Schauspieler: innen, die nun auf die Bühne treten. Begonnen wird mit ein paar Unterhaltungen, Stimmübungen, es wird getanzt und etwas Gitarre gespielt, die Stimmung ist entspannt.

Neben den vier fest engagierten Schauspieler:innen, sind noch eine Reihe anderer Leute wichtig für das Theaterstück. Die vier beschreiben es so: ›Wir füllen die Figuren und spielen sie in ein Gerüst.‹ Dieses Gerüst besteht aus vielen Bereichen. Bevor die Probe beginnt, überprüft die Bühnen-Zuständige den Eingang des Bunkers am Rand der Bühne. Braucht er vielleicht noch mehr Rost? Auch das möglichst effiziente Umfunktionieren des Eingangs in Ehsans Bett, indem eine Schauspielerin ihn mit einem Bettlaken überzieht, wird geübt. Dann wird das Licht getestet, welches große Bilder auf die etwas durchsichtigen Vorhänge wirft, die vom Lüften leicht im Wind wehen. Sobald die Rahmenbedingungen stimmen, geht das Licht im Saal aus und nur noch die Bühne wird beleuchtet, auf der nun die Schauspieler:innen beginnen einige Szenen zu proben.

Etwa zehn Leute schauen zu, darunter die Regieassistentin, die Souffleuse und die Dramaturgin Rebecca Hohmann. Der Regisseur Theo Fransz, der bereits einige Stücke am Moks inszeniert hat, sitzt näher an der Bühne und steht immer wieder auf, um das Geschehen von allen Seiten betrachten zu können. Als die Schauspielerin Caline Weber als Erzählerin des Stückes durch das unaufgeräumte Zimmer von Ehsan tanzt, kommentiert er: ›Sehr schön, stell dir die Klamotten auf dem Boden vor wie einen Parcours!‹ Dazu geht er zu ihr auf die Bühne und macht vor, wie er sich die Szene vorstellt. In der nächsten Szene werden erneut Bilder auf die Vorhänge projiziert. Zu sehen sind die Schlagzeilen, mit denen sich Ehsan vor seinem Verschwinden auseinandergesetzt hat.

Eine große Greta Thunberg schaut das Publikum ernst an. Dazu wird Ehsans Brief eingesprochen, in dem er erklärt, dass ihm alles zu viel geworden ist. Die Dramaturgin wünscht sich, dass der Text mehr in Gedanken gesprochen wird, und der Schauspieler Fabian Eyer versteht die Kritik und spricht den Text erneut, bis er die erwünschten Gefühle besser darstellt. Es ist erstaunlich zu sehen, wie verschieden der Text interpretiert werden kann, doch im Dialog filtern Hohmann und Fransz genau die Gefühle aus den Worten, die sie geschauspielert haben wollen.

So werden die Szenen Stück für Stück durchgenommen, und es fällt auf, wie wichtig die Abläufe und jede einzelne Kleinigkeit sind. Während die vier versuchen, die Klappe zum Bunker zu öffnen, muss auf alles geachtet werden: den richtigen Text, der in genau der richtigen Tonlage und Geschwindigkeit gesagt werden soll, die Abfolge der Blicke untereinander, wer wo steht und mit welcher Haltung, und vieles mehr. Die Schauspielerin Barbara Krebs beschreibt die Arbeit des Regisseurs als sehr genau und präzise, das habe sie bisher so nur in der Schauspielschule erlebt. Da bei jedem Durchgang neue Tipps und Verbesserungsvorschläge gemacht werden, müssen sich die Schauspieler:innen einiges merken. Dabei helfen die vielen Wiederholungen und das Betrachten jeder Handlung der Figuren im Kontext. ›Manchmal schreibe ich mir nur auf, dass ich nach links gehen muss. Aber um es mir zu merken, muss ich wissen, warum Samantha dorthin gehen muss, zum Beispiel weil sie dort etwas gesehen hat‹, erzählt Larissa Pfau.

Am 26. September wird ›Und alles‹ schließlich vormittags vor Schulklassen aufgeführt. Alle Kinder sitzen gespannt auf den Plätzen der Tribünen und verstummen schließlich, als die Klappe des Bunkers mit einem lauten Knall zufällt und das Stück beginnt. Während der Vorstellung hört man einige Kommentare, laute ›Wows‹ und viel Lachen. ›Gerade das finde ich so cool, dass man direkt eine Reaktion bekommt!‹, sagt die Schauspielerin Barbara, obwohl das junge Publikum dadurch auch eine Herausforderung für die Konzentration sein könne. Beim Spielen vor Kindern ändert sich für die Schauspieler:innen jedoch nichts, denn man müsse es ja genauso ernst meinen wie vor erwachsenem Publikum.

›Wir haben das Recht traurig zu sein‹

Nach der Vorstellung bleiben zwei Klassen noch da und reden mit der Regieassistentin und den Schauspieler:innen über das Stück. ›Kennt ihr Ehsans Gefühl?‹, fragt die Regieassistentin Emily Masch und viele Kinder nicken. ›Einige kennen vielleicht die Traurigkeit von Ehsan, für andere geht es um den Nachrichten-Overflow, andere identifizieren sich mit den Kindern, die gebabysittet werden‹, so der Schauspieler Fabian Eyer. In der Geschichte versuchen Ehsans Freunde verschiedene Ansätze, um ihn dazu zu bringen, aus dem Bunker herauszukommen. Sie erzählen von den guten Dingen im Leben und von ihren eigenen Erfahrungen mit Traurigkeit, ein Satz bleibt besonders hängen: ›Wir haben das Recht, traurig zu sein!‹.

Zudem stellt das Stück der vermeintlichen Ohnmacht von Kindern etwas entgegen, denn Ehsan war schlussendlich nicht im Bunker, sondern hat einem gestrandeten Wal ein Grab geschaufelt und damit ein Zeichen gesetzt. Auch Kinder können etwas bewirken, und mit den Worten von Ehsans Schwester ausgedrückt: ›Die Welt umdrehen, wie einen Pfannenkuchen!‹. Das Stück bietet also viel, doch Fabian ist es besonders wichtig, dass es keine bestimmte Agenda gibt, die bestimmen soll, was die Kinder spüren oder lernen sollen. Dies entscheiden sie selbst: Welche Fragen und Antworten sie mit nach Hause nehmen, oder ob es vielleicht einfach nur ein schönes Erlebnis war.