Im März 2019 hatte im Kulturzentrum Schlachthof das dokumentarische Musiktheaterstück ›Drei Tage im März‹ Premiere. Es thematisiert mit historischen Texten, Spielszenen und der eigens komponierten Musik des Dardo Balke Ensembles aus Bremerhaven die Deportation von etwa 270 Roma und Sinti aus Nordwestdeutschland von eben diesem Ort – dem alten Bremer Schachthof – in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Im Zentrum der Handlung steht die 12-köpfige Familie des Musikers Wilhelm Schwarz, die bis zur Deportation direkt neben dem Schlachthof lebte. Und hier insbesondere die Tochter Gertrud, die mit zwei Geschwistern die Schule an der Gothaer Straße, die heutige Oberschule Findorff, besuchte. Bei der Recherche war der Autor auf Jahrzehnte alte Entschädigungs- und Prozessunterlagen im Staatsarchiv angewiesen. Ein Foto existierte allein von der Tochter Anni, die als einzige der Familie Auschwitz überlebte.
Was damals niemand in Bremen wusste: Es gibt einen lebenden Nachfahren der Familie. Wenn am 8. März 2025 im Kulturzentrum Schlachthof die Bremer Sinti und ihre Freundinnen und Freunde an ihre ermordeten und verfolgten Vorfahren erinnern, wird auch Erdmann Grimm aus Wolfsburg dabei sein. Er ist der Sohn von Anni Schwarz, die im März 1943 achtzehn Jahre alt war und nach dem Krieg den Namen Grimm annahm. Bis vor drei Jahren wusste er nicht, wie groß seine Familie einmal war.
Der Historiker Hans Hesse, der seit Jahrzehnten die Verfolgungsge - schichte der Sinti und Roma in Nordwestdeutschland aufarbeitet, hatte in Wolfsburg das Grab von Anni Grimm entdeckt und über das zuständige Friedhofsamt den Kontakt zu ihrem Sohn gesucht. ›Das war erst mal ein Schock, bis dahin wusste ich ja nur von Gertrud und einem Bruder‹, sagt Erdmann Grimm. ›Und von Pappo und Mami, meinen Großeltern. Aber dann wollte ich alles ganz genau wissen und habe alles aufgesogen und gelesen, was ich darüber erfahren konnte. Ich werde das nicht los, das ist immer da.‹
Inzwischen hat Erdmann Grimm wieder regen Kontakt zu einigen Mitgliedern der Sinti-Community in Bremen und Umgebung. Als Kind war er oft mit seiner Mutter, die in Wolfsburg wenig Kontakt zu anderen Sinti hatte, nach Bremen gefahren. Hier seien beide jedes Mal aufgeblüht. ›Ich habe mich richtig ernst genommen gefühlt. Sobald wir ankamen, ist Onkel Harry mit mir zum Angeln an die Wümme gefahren‹, erzählt er. ›Als ich ungefähr neun oder zehn war, hat Onkel Harry mir auch etwas über die Geschichte der Sinti erzählt und ein paar Brocken Romanes beigebracht. Auch er hat mir nichts über die Grausamkeiten erzählt, die unserer Familie angetan wurden. Aber ich habe mich so verbunden mit den Leuten und ohne Worte verstanden gefühlt, dass ich immer dableiben wollte. Ab da habe ich mich als Sinto verstanden.‹ Diese lange verschüttete Identität hat Erdmann Grimm nun wiederge - funden. Die Leidenschaft für das Angeln, die Onkel Harry bei ihm einst geweckt hatte, hat er seit seiner Kindheit weiter gepflegt.
Als im Jahr 2022 der Platz vor dem Schlachthof in ›Familie-Schwarz-Platz‹ benannt wurde, malte der damalige Schlachthof-Mitarbeiter Matthias Otterstedt die lebensgroßen Silhouetten einer zwölfköpfigen Familie auf Bildplatten, vom Baby bis zum Vater. Nur eine Figur hat ein Gesicht: die von Anni. Ein Foto dieses Gemäldes hängt jetzt bei Erdmann Grimm zu Hause an der Wand. Nicht weit davon entfernt hängt neben anderen Familienbildern ein Foto von Annis in Auschwitz ermordeter Schwester Gertrud, Grimms Tante, der ehemaligen Schülerin an der Gothaer Straße, von der 2019 bei der Premiere von ›Drei Tage im März‹ in Bremen nur der Name bekannt war.
Wie Erdmann Grimm hat auch die Niederländerin Linda Dickel erst vor wenigen Jahren Zugang zu einem wesentlichen Teil ihrer Familiengeschichte bekommen. Ihr Vater Julius gehörte wie die Familie Schwarz mit weiteren 17 Familienmitgliedern zu den im März 1943 vom Schlachthof deportierten Sinti und Roma. 1961 zeigte er den Kriminalbeamten Wilhelm Mündrath, den Hauptverantwortlichen der Deportation im damaligen Kripoleitstellengebiet Bremen, das auch weite Teile Niedersachsens umfasste, vor dem Landgericht Bremen an. Durch das folgende Ermittlungsverfahren sind überhaupt erst viele der Aussagen dokumentiert, die es heute ermöglichen, die damaligen Vorgänge zumindest in Ansätzen zu rekonstruieren. Entsprechend dem damaligen Zeitgeist wurde das Verfahren 1962 eingestellt, der Bremer Haupttäter Mündrath blieb unbestraft.
Julius Dickel lernte später in den Niederlanden die Mutter von Linda Dickel kennen, verließ die Familie aber, als Linda noch ein kleines Kind war. Während einer Gedenkfahrt ins niederländische Durchgangslager Westerbork erzählte einer der dortigen Historiker John Gerardu, der die Website Spurensuche Bremen betreibt, dass sich eine Linda Dickel aus Rotterdam gemeldet habe und wissen wollte, ob dort etwas über ihren Vater bekannt sei. ›Als ich Linda anrief, fiel sie aus allen Wolken, weil sie zum ersten Mal viel über ihren Vater erfuhr‹, sagt John Gerardu. ›Da sein Grab in Offenburg inzwischen eingeebnet war, hat sie uns im Arbeitskreis Erinnern an den März 1943 gefragt, ob wir einen Stein für ihren Vater auf das Familiengrab legen könnten.‹ Dies ist inzwischen geschehen, im Mai 2022 wurde der Gedenkstein im Beisein von Linda Dickel und ihrer Mutter eingeweiht.
Die überlebenden Sinti und Roma irrten nach ihrer Befreiung zum großen Teil durch Deutschland, um Reste ihrer Familien zu finden.
Eine dritte erst vor Kurzem entdeckte Spur führt von Walle nach Paderborn. Auf ihren Führungen über den Waller Friedhof weisen Cecilie Eckler-von Gleich und Angela Piplak vom Kulturhaus Walle Brodelpott seit langem auch auf die Grabstelle der Familie Schmidt hin. Dessen Inschrift lautet: ›Durch Unmenschlichkeit verstarben im Lager Auschwitz in den Jahren 1943 bis 1945 40 Angehörige unserer Familie.‹
Diese Inschrift zeigt, dass das Grab zugleich ein Mahnmal ist – und zwar bundesweit eines der ersten, das an die Verfolgung der Sinti und Roma erinnert. Durch die Zusammenarbeit im Arbeitskreis wurde Hans Hesse auf das Grab aufmerksam und stellte weitere Nachforschungen an, die er im März 2019 im Kulturhaus Walle vorstellte. Wenig später meldete sich Giano Weiß bei ihm, der einen Bericht darüber gelesen hatte, und stellte sich als Enkel von Anton Schmidt vor. Er kannte die Grabstelle seiner Bremer Vorfahren bis dahin nicht. Heute leitet er den Landesverband deutscher Sinti und Roma in Paderborn. In Bremens Überseestadt soll ein Platz nach Maria Schmidt, der ermordeten ersten Frau von Anton Schmidt, benannt werden.
Die überlebenden Sinti und Roma irrten nach ihrer Befreiung zum großen Teil durch Deutschland, um Reste ihrer Familien zu finden. Von den Behörden wurden sie dabei nicht nur allein gelassen, sondern weiter schikaniert, ihrer Bürgerechte beraubt, vertrieben oder auf armselige Lagerplätze getrieben. Schwer traumatisiert hatten sie genug damit zu tun, das Nötigste zum Leben zu organisieren. In welcher Stadt, in welchem Dorf sie sich niederließen, war oft vom Zufall bestimmt, eben dort, wo sie zumindest einen kleinen Anhaltspunkt hatten. Ewald Hanstein zum Beispiel, der 2009 verstorbene langjährige Vorsitzende des Bremer Sinti-Vereins, kehrte von der vergeblichen Suche nach seiner Familie in Berlin an den Ort seiner Befreiung vom Todesmarsch zurück: einen kleinen Ort bei Magdeburg, wo ihn die Amerikaner nach der Befreiung aus einem Schuppen aufgepäppelt hatten – dort hatte er nach Jahren unvorstellbaren Leids das erste Mal wieder Freundlichkeit erfahren.
Von ihren ermordeten Angehörigen – 500.000 in ganz Europa – blieben ihnen nicht einmal Gräber, an denen sie um sie trauern konnten. Umso wichtiger sind die kollektiven Gedenkorte, allen voran die in den ehemaligen Konzentrations-, Vernichtungs- und Arbeitslagern entstandenen Gedenkstätten, aber auch die zahlreichen Tafeln, Steine oder Straßenschilder an den markanten Geschichtsorten in den Städten und Gemeinden.
›Die Ermordeten sind irgendwo verscharrt worden, niemand weiß wo. Aber das hier ist der letzte Ort, von dem man genau weiß, dass sie dort waren‹, wird im Stück ›Drei Tage im März‹ ein Sinto zitiert. ›Dort haben sie das letzte Glas Wasser auf heimatlichem Boden getrunken, von da aus ging es ins Verderben.‹
Dieser Ort ist in Bremen der alte Schlachthof, in dessen Resten heute das Kulturzentrum beheimatet ist und vor dem seit 30 Jahren eine Gedenktafel an die Deportationen im März 1943 erinnert. Wer sich einmal die Erinnerungen, die hier jedes Jahr am 8. März geteilt werden, angehört hat, weiß seitdem: Nichts ist vorbei, alles Geschehene ist in jedem Augenblick Gegenwart.
›Mit der Trauer kommt auch immer das Gefühl hoch, dass wir immer noch ausgeschlossen sind, dass die Rechten wieder stärker werden, dass die Roma in ihren Ländern diskriminiert werden‹, sagt Dardo Balke, Geschäftsführer des Landesverband deutscher Sinti und Roma.
Mit der immer hemmungsloseren Stimmungsmache gegen Menschen mit Migrationsgeschichte wachsen auch die nie verschwundenen Ängste der Sinti wieder deutlich an. Sie sind auch dadurch nicht geschützt, dass ihre Vorfahren zum Teil seit 600 Jahren in Deutschland leben. Noch bedrohlicher ist die Lage für die vor rassistischer Diskriminierung und Verfolgung hierher geflüchteten Roma aus Süd- und Osteuropa. Auch ihre Vorfahren wurden während der Nazi-Zeit von den Nazis in den besetzten Gebieten Europas verfolgt und ermordet. Das schützt sie nicht vor Abschiebung oder der permanenten Drohung damit.
Die Erinnerungsorte sollten genauso wichtig für die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft sein, die Nachkommen der Täter. Die Gedenktafel am Schachthof mahnt sie, ›Unmenschlichkeit und Rassismus entgegenzutreten‹.