"Wir sind gerade in einer Experimentierphase"

BENJAMIN MOLDENHAUER

Das Projektbüro Innenstadt ist angetreten, Bremen zwischen Wall und Weser neu aufzustellen, um die sogenannte gute Stube attraktiver und weniger abhängig vom Einzelhandel zu machen. Sonja Broy leitet den Bereich Transformation und berichtet im Interview von kleinen und großen Projekten, mit denen das gelingen soll.

Auf die Bremer Innenstadt wird viel geschimpft, aber was macht denn die Innenstadt im Positiven aus?
Sonja Broy: Die Bremer Innenstadt hat ideale Voraussetzungen für die Innenstadt von morgen. Sie ist kompakt, fußläufig und hat – nicht nur durch das Weltkulturerbe – einiges zu bieten, zum Beispiel historisch gewachsene Strukturen wie das Schnoorviertel und die Böttcherstraße, gut funktionierende Plätze wie den Liebfrauenkirchenhof und, nicht zu vergessen, die direkte Lage am Fluss.

Die Innenstadt wirkt im Vergleich zu früher verwaist. Was hat sich geändert in den letzten Jahren?
Broy: Schon lange steht der Einzelhandel durch die starke Online-Konkurrenz unter Druck, große Kaufhäuser wurden geschlossen, auch der Einzelhandel hat sich schon in den letzten Jahren mehr und mehr zurückgezogen, raumgreifende Leerstände folgten – nicht nur in Bremen, sondern bundesweit. Die Covid-Pandemie hat den Prozess nun insgesamt beschleunigt. Ein Ergebnis der monofunktionalen Ausrichtung der Innenstadtlagen, wie wir sie bisher kennen.

Das heißt: Innenstädte, in die man nur zum Shoppen fährt.
Broy: Genau. In der Innenstadt fehlt es zum einen an Aufenthaltsqualität. Wir brauchen mehr Sitzgelegenheiten, Grünflächen, Schatten, Spielangebote für Kinder und so weiter. Zum anderen braucht es Angebote jenseits des klassischen Einzelhandels, auch wenn dieser natürlich weiterhin Relevanz haben wird. Orte ohne Konsumpflicht, Raum für gemeinwohlorientierte und innovative, wie kreative Konzepte und Begegnungen. Das heißt nicht, dass es dort keine gastronomischen Angebote oder ähnliches gibt, sondern einfach nur, dass alle willkommen sind, auch, wenn sie sich gerade nichts leisten können oder wollen. In der Stadtentwicklung spricht man von Dritten Orten, die als soziale und informelle Treffpunkte neben dem familiären und beruflichen Umfeld dienen und die in Innenstädten bisher fehlen. Ich wundere mich nicht selten über den negativen Blick, den Menschen auf ihre Innenstädte haben. Ist die Innenstadt noch zu retten, stirbt sie aus? Schlagzeilen wie diese prägen sämtliche Debatten. Warum haben wir eigentlich über Jahrzehnte hingenommen, dass unsere Innenstädte lediglich dem Konsum und der kapitalistischen Verwertungslogik dienen? Das ist doch der Grund, warum der öffentliche Raum Defizite aufweist.

Was verbinden Sie mit dem Slogan ›Eine Innenstadt für alle‹?
Broy: Lebendigkeit und Nutzungsmischung: Einzelhandel wird natürlich nach wie vor eine Rolle spielen, dazu Gastronomie, Kulturangebote und öffentliche, barrierefreie Räume mit Aufenthaltsqualität. Nach Ladenschluss wirkt die Innenstadt im Moment regelrecht verlassen. Sie ist eben kein klassisches Wohnquartier, in dem es Alltagsleben und Nachbarschaft gibt – und auch das soll und muss sich mittel- und langfristig ändern. In der Altstadt zwischen Wall und Weser wohnen bisher nur rund 4.000 Menschen, im Vergleich zu anderen Städten eine sehr geringe Zahl.

Was sind denn unter dem Stichwort Transformation die Ideen, die oben aufliegen? Und welche Maßnahmen laufen schon?
Broy: Da sind zum einen bereits bekannte, große Maßnahmenpakete wie die Umgestaltung des Domshofs, der Teil-Umzug der Universität in die Innenstadt und die Entwicklung des Parkhauses Mitte. Hinzu kommen eine ganze Reihe von Pilotvorhaben und kleinteiligen Projekten, die wir als Projektbüro gemeinsam mit der Senatskanzlei, den verschiedenen städtischen Ressorts und Stakeholdern umsetzen. Über das Bundesprogramm ›Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren‹ (ZIZ) stehen bis Sommer 2025 hierfür insgesamt sechs Millionen Euro zur Verfügung. Die Vorhaben greifen dabei wie Mosaiksteine ineinander und ermöglichen es uns, innovative Bausteine für eine neue Nutzungsmischung zu planen und in Richtung Umsetzung zu bringen. Ein Beispiel: das Pilotvorhaben zu Dachlandschaften. Ungenutzte Dächer bieten große Potenziale. In Bezug auf Begrünung und Abkühlung genauso wie auf Gastronomie, Kultur, Bewegung und Sport, Lebensmittel- oder Energieproduktion. Gerade ist eine Studie in Arbeit, die die Dächer auf ihre bautechnische Eignung untersucht. Im nächsten Schritt geht es um die Kontaktaufnahme mit den Immobilienbesitzer:innen und die Entwicklung von Betriebsmodellen. Spätestens hier zeigt sich: Strukturwandel funktioniert nur, wenn langfristige Visionen entstehen und von allen Seiten geteilt und ermöglicht werden. Über das Bundesprogramm sind auch Mittel für den exemplarischen Umbau von ein bis zwei Dächern vorhanden.

Gibt es denn auch Projekte, die speziell die Akteur:innen und Nutzer:innen ansprechen, die in der Innenstadt bisher fehlen?
Broy: Ja, und die laufen sehr vielversprechend an. Unter dem Stichwort der Beteiligung startet im Herbst der erste Bremer Bürger:innenrat, der sich mit der Weiterentwicklung des öffentlichen Raumes in der Innenstadt befassen wird und diesbezüglich Empfehlungen an Politik und Verwaltung aussprechen soll. Bei einem Bürger:innenrat handelt es sich um eine los- und damit zufallsbasierte Form der Partizipation, bei der auf Basis einer Stichprobe in Zusammenarbeit mit dem Einwohnermeldeamt ein Panel eingeladen wird, dass die Merkmale der Bremer Bevölkerung exakt abbildet. Klassische Beteiligungsformate erreichen nur bestimmte Teile der Bevölkerung.
Darüber hinaus gibt es einen Verfügungsfonds über das ZIZ-Progra der es Vereinen, Initiativen und Einzelpersonen ermöglichen soll, sich mit eigenen Projekten und Ideen zur Bremer Innenstadt von morgen kreativ auseinanderzusetzen. Vor wenigen Wochen war Bewerbungsschluss, und wir waren von der Resonanz sehr überrascht. 30 Bewerbungen sind eingegangen, mit einer angefragten Gesamtfördersumme von mehr als 340.000 Euro. Bei leider nur 70.000 Euro, die in diesem Jahr im Topf sind. Im kommenden Jahr gibt es dann eine Neuauflage – und noch in diesem werden die ersten geförderten Projekte im Centrum sichtbar. Die Bandbreite reicht von einem Klimaprojekt, das einen mobilen Mini-Urwald errichten will, um zu verdeutlichen, wie die grüne Innenstadt der Zukunft aussehen kann, bis hin zu KreativWorkshops, Wandbildern und der Pilotphase für einen soziokulturellen Austauschort mit dem Fokus auf Sprache und Vielsprachigkeit als Potenzial für Integration und Begegnung.

Das klingt erstmal nach temporären Experimenten.
Broy: Ja, wir sind da gerade in einer Experimentierphase, in der es vor allem darum geht, Akteur:innen, die langfristig Verantwortung für die Entwicklung der Innenstadt übernehmen möchten, zu begeistern. Wer in den kommenden Wochen und Monaten den Hanseatenhof quert und am ehemaligen Blumenladen im Marktpavillon vorbeiläuft, der wird vielleicht feststellen, dass dort wechselnde, öffentliche Formate stattfinden. Workshops, Lesungen, Ausstellungen, initiiert von verschiedenen Vereinen und Organisationen. Das UMZU als Projektraum für Stadtmacher:innen wird von der AAA GmbH kuratiert und ist eines der Raumexperimente, das wir mitverantworten und evaluieren, um das Feedback und die Bedarfe der Nutzenden in unsere Arbeit einfließen zu lassen.

Wie sieht denn die zeitliche Perspektive aus?
Broy: Die heutige Innenstadt mit ihrer monofunktionalen Ausrichtung ist das Ergebnis der planerischen Ansätze der 1950er- und 1960erJahre. Dementsprechend ist Stadtentwicklung immer ein langfristiger und mitunter auch langwieriger Prozess. Es gilt, verschiedene Dimensionen und Funktionen in Einklang zu bringen – baulich-räumliche, funktionale und soziale, unter der Berücksichtigung von gesetzlichen Vorgaben und Regularien, und Zielbilder zu entwickeln, die auch über die jeweiligen Legislaturperioden hinaus bestehen können. Die eben angesprochenen Experimente bedienen den kurzfristigen Horizont, mittel- und langfristig können Jahre oder Jahrzehnte vergehen.