Lateinamerikanische Filmgeschichte

MELISSA SCHULLER

Über das lateinamerikanische Filmschaffen lernen wir in deutschen Kinos, von den Streaming-Diensten und vom Fernsehen relativ wenig. Dabei bietet das Kino Lateinamerikas ein breites Spektrum an gesellschaftlich und politisch relevanten Erzählungen. Die neokolonialen Strukturen behinderten die Verbreitung und den kommerziellen Erfolg des lateinamerikanischen Filmschaffens. Es lohnt sich, einen Blick auf diese Filmgeschichte zu werfen.

Eine bekannte Bewegung des brasilianischen Filmschaffens ist das Cinema Nôvo, das in den späten 1950er und 1960er Jahren auftrat. Es gilt bis heute als Opposition zu den kommerziellen Filmen, besonders den kolonialistisch geprägten Hollywood-Produktionen. Die politischen Ansichten und ästhetischen Techniken der Cinema-Nôvo-Filme waren eine Mischung aus italienischem Neorealismus, französischer Nouvelle Vague, Bestandteilen der Volkskunst (Rituale indigener Völker und Karnevalskunst), der Oper sowie aus Genres wie Melodrama und Western.

Die Filme handelten vor allem von Elend und Gewalt in den Städten sowie von Not und Konflikten von Besitzlosen in den ländlichen Gebieten Brasiliens. International wurden solche Produktionen als ›drittes Kino‹ bezeichnet. Sie boten Ländern nach jahrhundertelanger Kolonialisierung eine Bühne und versuchten Menschen außerhalb Südamerikas über die dortigen Missstände aufzuklären. International bekannter wurde das lateinamerikanische Kino mit dem Gewinn der Goldenen Palme in Cannes 1962 für den Cinema-Nôvo-Film ›O Pagador de Promessas‹ (dt. ›50 Stufen zur Gerechtigkeit‹) von Anselmo Duartes.

Ein anderer bekannter und bewegender Film zu der Zeit war ›Vida Secas‹ (Brasilien 1963) von Nelson Pereira dos Santos,
in dem eine verarmte Familie auf der Suche nach einem besseren Ort mit Essen und Obhut ist und dabei mit der Dürre und dem Elend des Landes zu kämpfen hat. Weitere bis heute prägende Filme der Bewegung sind ›Deus e o Diabo na Terra do Sol‹ von Glauber Rocha, ›Os Fuzis‹ von Ruy Guerra und ›A Hora e a Vez de Augusto Matraga‹ von Roberto Santos, die Mitte der 1960er Jahre produziert wurden. Sie zeigen oft Laienschauspieler:innen und wurden vor Ort gedreht, was
ihnen eine realistische Atmosphäre verleiht. Sie hatten einen bedeutenden Einfluss auf das lateinamerikanische Kino und
prägen Filmemacher:innen bis heute.

Das lateinamerikanische Kino bietet damals wie heute marginalisierten Stimmen, darunter indigene Völker, Frauen und LGBTQIA+-Gemeinschaften, eine Plattform. Des Weiteren findet man in den Filmen meist eine Kritik an Armut, Ungleichheit, Diktaturen und Umweltbelangen. Dominante Narrative und kommerzialisierte Produktionen werden in Frage gestellt, um sich für soziale Veränderungen einzusetzen. In Sachen Ästhetik und künstlerischer Bandbreite fehlt es lateinamerikanischen Produktionen an nichts: Das Kino zeichnet sich durch seine experimentellen und innovativen Herangehensweisen an
Geschichtenerzählen, Kinematografie und Sounddesign aus. Es bietet ein breites Spektrum an politischen und sozialen Auseinandersetzungen. Regisseur:innen wie Alejandro González Iñárritu und Guillermo del Toro sind in Hollywood inzwischen bekannte Namen und repräsentieren das lateinamerikanische Filmschaffen in den USA.

Obwohl der lateinamerikanische Film also untergründig präsent ist, ist seine Bekanntheit immer noch gering im Vergleich zu Hollywood-Produktionen. Auf Filmfestivals werden sie selten gezeigt, außer eben auf Filmfestivals, die sich auf lateinamerikanisches Filmschaffen spezialisiert haben. Die Filme zeigen, dass es lohnend ist, sich mit lateinamerikanischen Produktionen auseinanderzusetzen.